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Bo Kojich

Barock in Rom: Caravaggio

Im Jahre 1594 kam Michelangelo Merisi da Caravaggio in die Ewige Stadt: kaum zwanzig Jahre alt, unbekannt und mit wenig Geld in der Tasche. Sechs Jahre später wird er als „Egregius in Urbe Pictor“, also als „der bekannteste Maler der Stadt“ gefeiert. Der Weg zu diesem Triumph führte durch die Capella Contarelli in der Kirche San Luigi dei Francesi, die wir heute besichtigen werden. Nur wenige Schritte entfernt von der sehr belebten Piazza Navona befindet sich die ruhig gelegene Kirche. Sie wurde zwischen 1518 und 1589 errichtet und ist als französische Nationalkirche König Ludwig IX. von Frankreich geweiht.




Neben den zahlreichen Schätzen, die die Kirche beherbergt, gilt ihr grosser Ruhm der Kapelle gleich vor dem Altarraum, der besagten Capella Contarelli mit drei Gemälden Caravaggios. Bis dahin als Maler von sitzenden Figuren, Knabenbildnissen, Kartenspielern und Musikanten bekannt, bezeugen die Ausstattungen für die Kapelle seine erste grosse Auftragsarbeit mit biblischen Sujets. Die Bilder in der Kapelle zeigen die Berufung des Hl. Matthäus, das Martyrium des Hl. Matthäus sowie die Niederschrift des Evangeliums durch Matthäus mit Engel.


Das Thema des ersten vollendeten ist die Berufung des Heiligen Matthäus. In der Bibel wird die Berufung mit einem kurzen Text beschrieben: "Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Matthäus auf und folgte ihm." Es ist ein Ereignis, das sich dem biblischen Text zufolge sehr schnell abspielt: ein in drei Worten ausgesprochener Imperativ und eine gleich darauf folgende Handlung. Matthäus (alias Steuereintreiber Levi) steht auf und folgt dem Jesus. Caravaggio komprimiert diese kurze Handlungsebene weiter und wählt den genauen Augenblick, in dem Matthäus den Imperativ eben gehört hat.


Die Komposition und die Dramaturgie des Bildes führen den Betrachter schnell zu diesem Schlüsselmoment. Jesus tritt von links am äusseren Rande des Bildes in den dunklen Raum eines Gasthauses ein. Seine Augen sind nur halb sichtbar. Seine punktuell beleuchtete in der Luft schwebende Hand, zeigt nachdrücklich auf Matthäus. Matthäus (im Bild der ältere Mann mit dem Bart) ist seiner Berufung noch nicht ganz bewusst. "Wen sprichst Du an? mich, wirklich mich ...?" – drückt er schweigend, mit der sich selbst zugewandten Zeigefingergeste, aus. Bald wird er nicht mehr zweifeln. Er wird vom Tisch aufstehen und Jesus folgen. Die Dramatik des Ereignisses wird mit einem schweinwerferartigen Lichtkegel verstärkt. Das Chiaro-Scuro, der sich durch Hell-Dunkel-Kontraste auszeichnende Malstil von Caravaggio, ist uns wohl bekannt. Vielleicht weniger bekannt ist, dass seine innovative Bildsprache auch auf einem Spiel mit der Mehrdeutigkeit aufgebaut wird.

Mehrdeutigkeit im Gemälde „Die Berufung des Matthäus“

Man stellt sich gleich am Anfang die Frage, wer im Bild der "richtige" Matthäus sei? Ist es der ältere Mann mit dem Bart, oder vielleicht der junge Mann, der das eingetriebene Geld zählt und ahnungslos gegenüber der Präsenz Jesu ist? Die Kunsthistoriker diskutieren immer noch darüber. Eine deutlichere Umsetzung in der Direktion des Zeigefingers der linken Hand des älteren Mannes hätte dieses Rätsel vermeiden können. Die Mehrdeutigkeit im Bild entsteht auch durch das Zusammenbringen der Bekleidung aus zeitlich entfernten Epochen. Die historische, apostolische Bekleidung von Petrus und die Mode Roms um 1600, welche die Protagonisten im linken Teil des Bildes tragen, werden in dieser Szene zusammengetragen und zeitlich überlagert. Die historische Zeit des lebenden Christi schmilzt mit jener Roms im Zeitalter der Gegenreformation. Die weit entfernte Vergangenheit trifft sich mit der farbigen Gegenwart Roms. Deswegen könnte man die Frage stellen, ob es sich hier ausschliesslich um die Berufung eines historischen Matthäus handelt, oder werden auch die gegenwärtigen Betrachter des Bildes (die Gläubigen, die Kardinäle, die Bankiers, die Wirte, die Tagelöhner…) ebenfalls adressiert?

Betrachten wir das Bild weiter. Das Fenster, das den oberen Teil des Bildes dominiert, trägt in sich eine eindeutige Symbolik des Kreuzes. Ist es aber ein Fenster, dass aus dem Innenraum (was anhand der Lichtführung anzunehmen wäre) betrachtet wird? Oder betrachten wir das Fenster doch von aussen? Die leere Wand, sowie die Fensterklappen suggerieren, dass diese Handlung auch in einem offenen Raum hätte stattfinden können. Das heisst, dass Caravaggio sowohl mit den zeitlichen wie auch mit den räumlichen Grenzen des Bildes spielt.

Dem wörtlichen Imperativ „Folge mir nach!“ wird durch die, in der Luft schwebende, ausgestreckt leicht gebogenen Hand Christi in einer poetischen Bildsprache Ausdruck verliehen. Diese Hand ist möglicherweise ein Zitat von Michelangelo Buonarrotis „Erschaffung Adams“ aus der Sixtinischen Kapelle. Dabei wählt Caravaggio nicht die starke, bestimmende Hand Gottes, sondern die noch schwache, menschliche Hand des Adams. Zufall oder Absicht?




 

Die Antworten auf diese Fragen sind schlussendlich nicht wichtig. Es ist viel wichtiger, hier zu verstehen, dass Caravaggio mit diesen, für ihn typischen Strategien der Mehrdeutigkeit, geschickt spielte. Durch diese visuellen Irritationen lieferte er dem gebildeten Publikum Roms Stoff für Diskussionen in privaten Palästen. Ein junger Künstler sucht auf dem hart umkämpften römischen Kunstmarkt nach neuen, potenten Auftraggebern.

... Und in der Tat, wenige Monate nach der Vollendung der Arbeit in der Capella Contarelli unterzeichnete Caravaggio für 400 Scudi (eine sehr stolze Summe) einen neuen Vertrag. Dieses Mal für die Capella Cerasi in der Kirche Santa Maria del Popolo. In diesem im September 1600 unterschriebenen Vertrag, wird Caravaggio das erste Mal mit dem Titel als „EGREGIUS IN URBE PICTOR“ geehrt. Übersetzt: „Der bekannteste Maler Roms“.



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